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Hans Magnus Enzensberger und Nelly Sachs – eine Konstellation

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Hans Magnus Enzensberger in München, 1960
© Rene Burri/Magnum Photos
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Nelly Sachs im Jahre 1966

Als im Jahr 1958 der 29-jährige Hans Magnus Enzensberger, der im Jahr zuvor mit dem Gedichtband verteidigung der wölfe großes Aufsehen erregt hatte, nach Stockholm fährt, um die fast 70-jährige deutsch-jüdische Dichterin Nelly Sachs zu besuchen, kann keiner von beiden ahnen, dass sich aus diesem Besuch eine langjährige Freundschaft und intensive Arbeitsbeziehung entwickeln wird. So wenig Ähnlichkeiten man in beider Lebensentwürfen und Schreibweisen auch erkennen mag – es eint sie bei allen Unterschieden das Bedürfnis, Vergangenheit und Gegenwart im Medium des Gedichts zu reflektieren. Während die zurückgezogen lebende Nelly Sachs den Opfern, aber auch den Überlebenden der Vernichtung eine Stimme zu verleihen sucht und dabei eine von der jüdischen Mystik inspirierte, neue poetische Sprache findet, tritt Enzensberger als ironischer, polemischer, ja nicht selten aggressiver Kritiker der Verdrängungsunkultur der jungen Bundesrepublik auf, ein Provokateur, der keine Gelegenheit auslässt, sich öffentlich zu Wort zu melden. Diese virtuelle Ausstellung ist als Projektarbeit im Forschungsseminar „Deutsche Literatur“ unter der Leitung von Valérie Leyh und Vera Viehöver entstanden und schreibt sich zugleich in das ARC-Projekt „Genèse et actualité des humanités critiques – France–Allemagne, 1945–1980“ ein. Sie rekonstruiert die Konstellation „Enzensberger / Sachs“ als eine Beziehung, deren Bedeutung weit über das Private hinausgeht: Enzensbergers Bemühen, dem Werk der exilierten Nelly Sachs im renommierten Suhrkamp-Verlag eine neue Heimat zu geben und gemeinsam mit der Re-Internationalisierung der Literaturbeziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg zu arbeiten, wurzelt in dem Bewusstsein, dass die „Wunde Auschwitz“ offen ist.


Studieren heißt auch forschen – ein Projektbericht

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Das Ausstellungsprojekt „Hans Magnus Enzensberger und Nelly Sachs – eine Konstellation“ ist im Rahmen eines Forschungsseminars zur Geschichte der Deutschen Literatur nach 1945 entstanden, das im Studienjahr 2016/17 stattgefunden hat. Ziel des Seminars war es, den Studierenden zu ermöglichen, ihr bereits im Grundstudium erworbenes Wissen über die Literaturgeschichte der jungen Bundesrepublik, insbesondere über die Rolle der Gruppe 47, die Debatte um „Lyrik nach Auschwitz“ sowie über die in der NS-Zeit exilierten Autorinnen und Autoren zu vertiefen. Die im April 2017 im Rahmen des Projektes ARC „GENACH“ stattfindende Tagung „Hans Magnus Enzensberger – Konstellationen“ bot darüber hinaus die willkommene Gelegenheit, die Studierenden einerseits mit einem an der Philosophischen Fakultät angesiedelten größeren Forschungsprojekt vertraut zu machen und sie andererseits zu eigenständiger Forschungstätigkeit anzuleiten. Im Projekt „Hans Magnus Enzensberger und Nelly Sachs“ war zu erleben, dass Forschung mehr bedeutet als nur Bücher zu lesen und Aufsätze zu schreiben: Forschung, das konnte man hier lernen, umfasst vielmehr auch den Aspekt der Vermittlung: an die Kollegen, aber auch an ein größeres Publikum. Aber wie vermittelt man Forschungsergebnisse im 21. Jahrhundert am besten? Welche besonderen Möglichkeiten bieten sich im Zeitalter der Digital Humanities? Zum Beispiel die einer virtuellen Ausstellung!

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Eine virtuelle Ausstellung zu realisieren setzt die Beantwortung vieler Einzelfragen voraus: Was ist das eigentliche Thema der Ausstellung? Erzählt sie eine Geschichte? Wenn ja, welche? Und in welcher Reihenfolge soll man sie erzählen? Hat eine Ausstellung eigentlich eine These? In welchen Archiven liegen unveröffentlichte Quellen? Wie kommt man an sie heran? Kann man sie entziffern? Darf man sie zitieren? Auf welchem Server kann man die Ausstellung veröffentlichen? Wer kümmert sich um die technische Umsetzung? Woher bekommt man Bildmaterial? Wie hoch sind die Kosten dafür? Wer übernimmt sie? Welche rechtlichen Aspekte sind bei der Veröffentlichung von Archivmaterial und Fotos zu beachten? Wer gibt die Erlaubnis dafür? Das Archiv? Der Verlag? Der Autor? Die Photographin? Die Bildagentur? Fragen über Fragen! Und nicht alle kann man zu Hause am Schreibtisch beantworten…

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Höhepunkt des Seminars war deshalb eine viertägige Forschungsreise ins Deutsche Literaturarchiv in Marbach am Neckar (DLA). Im bestens ausgerüsteten Arbeitsraum des Archivs konnte die teils frankophone, teils deutschsprachige Gruppe in gemeinsamer Arbeit die Texte für die Ausstellungstafeln fertigstellen: Man tauschte Informationen aus, bestellte Bücher und Zeitschriftenbeiträge in der hervorragend ausgestatteten Bibliothek und half einander beim Übersetzen der Tafeln. Abgerundet wurde der Aufenthalt durch die Teilnahme an einer Lesung des umstrittenen deutschen Intellektuellen Karl Heinz Bohrer, eine Präsentation des umfangreichen Suhrkamp-Archivs sowie des Vorlasses von Hans Magnus Enzensberger und nicht zuletzt durch Besuche im Schiller-Nationalmuseum, im Literaturmuseum der Moderne sowie im prachtvollen Residenzschloss Ludwigsburg. Vier intensive Tage, bei denen, wie unsere Fotos zeigen, der Spaß nicht zu kurz kam.

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Fotos der Reise nach Marbach vom 20. bis 23. März 2017
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Hans Magnus Enzensberger als Redner bei den
„Tübinger Poetikvorlesungen“ im Jahre 2013
Felix König, Wikimedia Commons

Hans Magnus Enzensberger, ein allgegenwärtiger deutscher Autor

Hans Magnus Enzensberger ist im Laufe seines Lebens in viele Rollen geschlüpft. Er ist als Schriftsteller, Dichter, Übersetzer Herausgeber und Medientheoretiker in Erscheinung getreten und hat unter zahlreichen Pseudonymen publiziert: Giorgio Pellizzi, Linda Quilt, Elisabeth Ambras, Trevisa Buddensiek, Benedikt Pfaff, Andreas Thalmayr oder Serenus M. Brenzengang. Als einer der meistbeachteten Intellektuellen der Bundesrepublik Deutschland nimmt er Stellung zum Zeitgeschehen in Deutschland und in der Welt, die er in jungen Jahren auf unzähligen Reisen durchkreuzt hat. Heute ist er 87 Jahre alt und wohnt in München-Schwabing. Jedoch zieht er sich auch im Alter nicht ins Private zurück, sondern bleibt ein aufmerksamer Beobachter gegenwärtiger Entwicklungen, z.B. der Auswirkungen der Digitalisierung.

Hans Magnus Enzensberger wird am 11. November 1929 in Kaufbeuren in Bayern geboren. Als Erstgeborener einer bürgerlichen Familie wächst er mit drei Brüdern in Nürnberg auf. Er gehört zur Generation derer, die noch kurz vor Kriegsende zu den Waffen gerufen wurden, was er in einem dem Gedichtband verteidigung der wölfe beigelegten autobiographischen Text aus dem Jahr 1957 knapp kommentiert: „Im Winter 44/45 zum Volkssturm; Ehrenkleid in die Mülltonne“. Nach dem Krieg muss er für den Unterhalt seiner Familie aufkommen. So wird er Dolmetscher, Barmann und Schwarzhändler bei der Royal Air Force. Danach studiert er Philosophie und Literaturwissenschaft an den Universitäten Erlangen, Freiburg im Breisgau und Hamburg sowie an der Sorbonne. 1955 promoviert er mit einer Arbeit über den romantischen Autor Clemens Brentano.

Er beginnt seine Karriere als Redakteur beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart, wo er bis 1957 bleibt. Danach wird er ein echter Globetrotter und unternimmt zahlreiche Reisen u.a. nach Russland, in die Vereinigten Staaten, nach Kuba und Mexiko. Bei seiner Rückkehr veröffentlicht er den Gedichtband verteidigung der wölfe, in dem er versucht, eine neue Art politischer Lyrik zu entwickeln.

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Cover von Hans Magnus Enzensbergers
Museum der modernen Poesie

Als Schriftsteller arbeitet er nun in Norwegen, doch er begnügt sich nicht mit der Rolle des Autors. So wird er zu Beginn des Jahres 1960 Lektor im Suhrkamp Verlag, eine Arbeit, die ihn jedoch nur für kurze Zeit befriedigt. Er nimmt auch schon früh an den Treffen der Gruppe 47 teil und erhält 1963 als jüngster Preisträger den renommierten Georg-Büchner-Preis. Zwei Jahre später gründen Enzensberger und Karl Markus Michel die Zeitschrift Kursbuch, die ein zentrales Organ der bundesdeutschen Linken wird. Enzensberger wird zu einer wichtigen Figur der Studentenbewegung.

Die Vielseitigkeit von Enzensbergers Werk ist beeindruckend. 1972 schreibt er das Drehbuch zu einem Film über den spanischen Anarchisten und Revolutionär Buenaventura Durruti, 1973 liefert er das Libretto für Hans Werner Henzes Fernsehoper La Cubana oder Ein Leben für die Kunst , 1978 schreibt er das in Anklang an Dantes Divina Commedia als „Komödie“ bezeichnete Versepos Der Untergang der Titanic, in dem er Fortschrittsgläubigkeit und gesellschaftliches wie auch persönliches Scheitern reflektiert. Im Jahr 1980 beginnt seine Zusammenarbeit mit Gaston Salvatore, zusammen gründen sie die Kulturzeitschrift TransAtlantik. Mit dem Buch Wo warst du, Robert? wendet er sich auch an ein jugendliches Publikum, und mit der Anderen Bibliothek, deren Herausgeber er ist, erfüllt er sich den Traum einer Buchreihe für „Nörgler und Unzufriedene“.

Hans Magnus Enzensbergers Werk gehört zu den vielseitigsten des 20. und 21. Jahrhunderts, es reicht vom Versepos bis zum Zeitungsartikel. Zahlreiche Auszeichnungen und Preise – u.a. der Heinrich-Böll-Preis, der Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf, der Ludwig-Börne-Preis und der Frank-Schirrmacher-Preis – zeugen von der öffentlichen Anerkennung, die ihm zuteil geworden ist.

Werkauswahl

Nelly Sachs, eine Dichterin im schwedischen Exil

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Nelly Sachs im Jahre 1910.
Wikimedia Commons

Im Laufe ihres Lebens hat Nelly Sachs in vielen Gedichten dem Leiden der Juden während der NS-Zeit Ausdruck verliehen. Sie hat darüber hinaus jedoch auch schwedische Dichter ins Deutsche übersetzt. Nelly Sachs ist bis heute die einzige Lyrikerin, die den Nobelpreis für Literatur bekommen hat. Ihre Position als assimilierte deutsche Jüdin und ihr Wille, den Opfern der Shoah eine Stimme zu geben, machen diese Dichterin einzigartig.

Nelly Sachs wird am 10. Dezember 1891 in Berlin-Schöneberg geboren. Sie wächst in einem assimilierten jüdisch-großbürgerlichen Milieu auf. Ihr Vater, ein Literaturliebhaber, bringt die Tochter sehr früh mit Literatur in Berührung und beeinflusst so ihre Entwicklung als Künstlerin. Ab dem 16. Lebensjahr befreundet sich die junge Dichterin mit der schwedischen Schriftstellerin Selma Lagerlöf, deren Werke sie faszinieren. Der Briefwechsel zwischen den beiden Schriftstellerinnen wird über 35 Jahre andauern.

1921 veröffentlicht Nelly Sachs ihren ersten Gedichtband, Legenden und Erzählungen. Außerdem veröffentlicht sie mehrere Gedichte in verschiedenen Berliner Zeitschriften, wie zum Beispiel in der Vossischen Zeitung. Als in den dreißiger Jahren die Nationalsozialisten die Macht übernehmen und die Judenverfolgung beginnt, kann Sachs ihre Gedichte nur noch in jüdischen Zeitschriften veröffentlichen. Der Tod des Vaters ist für sie ein weiterer tiefer Einschnitt. Als assimilierte Jüdin erfährt sie Ablehnung Demütigung und Verfolgung, so dass ihr Leben sich völlig verändert.

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Schwedischer Ausweis von Nelly Sachs aus den Jahren 1942 bis 1945.
Ihr Aufenthalt in Schweden wird jeweils um ein Jahr oder um sechs Monate verlängert.
© Kungliga biblioteket – National Library of Sweden, collection Sachs, L90:16:21, Främlingspass, 1942_2

Im Mai 1940 gelingt Nelly Sachs mit Hilfe Selma Lagerlöfs die Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland: Sie geht mit ihrer Mutter ins Exil nach Stockholm. Im schwedischen Exil entdeckt sie die esoterischen Texte des Judentums, die ihre Arbeit beeinflussen werden. Es ist nun ihr Wunsch, den verfolgten Juden eine Stimme zu geben. Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, übersetzt sie Gedichte aus dem Schwedischen ins Deutsche, was ihre poetischen Ausdrucksmöglichkeiten erweitert. Zwischen 1943 und 1945 schreibt Sachs die ersten Gedichte über das jüdische Leiden und spricht dabei sowohl vom Leid der Toten als auch von dem der Überlebenden. 1947 veröffentlicht sie in einem DDR-Verlag den Gedichtband In den Wohnungen des Todes, 1949 folgt der Band Sternverdunkelung, der im Exilverlag Bermann-Fischer erscheint. Diese Gedichtbände werden jedoch kaum wahrgenommen.

Die fünfziger Jahre sind für Sachs eine Zeit großer äußerer und innerer Veränderungen. Der Tod ihrer Mutter im Jahre 1950 verstärkt Depressionen und Ängste. Im Jahre 1950 beginnt auch ihr Briefwechsel mit Paul Celan, mit dem sie sich durch das gemeinsame Anliegen, an das Leiden der Juden zu erinnern, verbunden fühlt. Obwohl weitere Gedichtbände erscheinen – Und niemand weiß weiter (1957) und Flucht und Verwandlung (1959) – sind die Werke von Sachs am Ende der fünfziger Jahre nur wenigen bekannt. Von 1958 an setzt sich jedoch Hans Magnus Enzensberger mit großem Erfolg für das Sachs’sche Werk ein, vor allem, indem er die Lyrikerin an den Suhrkamp-Verlag vermittelt, wo 1963 unter dem Titel Fahrt ins Staublose die erste Gesamtausgabe ihrer Gedichte erscheint, die viele Auflagen erleben wird.

Im Jahr 1960 wird Sachs mit dem Droste-Preis ausgezeichnet, und 1965 erhält sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. 1966 bekommt sie den Nobelpreis für Literatur. Trotz ihres Erfolgs auch bei den deutschen Lesern will Sachs nicht mehr in Deutschland wohnen, ihre Ängste sind zu groß. Bis zu ihrem Lebensende bleibt sie in Schweden. Sie stirbt am 12. Mai 1970 an einer Krebserkrankung in einem Stockholmer Krankenhaus.


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Ausschnitt aus Nelly Sachs’ Bücherregal in ihrer Stockholmer Wohnung
© Kungliga biblioteket – National Library of Sweden,
Harry Järv, Ämbetsarkivet, bostaden, 1970, n° 4

Auswahlbibliographie

Kritische Edition ihrer Werke

Hans Magnus Enzensberger und Nelly Sachs in der literaturwissenschaftlichen Forschung

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Einige wissenschaftliche Publikationen zu Nelly Sachs
und Hans Magnus Enzensberger

Der Beziehung zwischen Hans Magnus Enzensberger und Nelly Sachs ist in der literaturwissenschaftlichen Forschung bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden, was nicht zuletzt mit der Editionslage zu tun hat: Die Korrespondenz der beiden Autoren liegt größtenteils unveröffentlicht in der Königlichen Bibliothek Stockholm sowie im Deutschen Literaturarchiv in Marbach; lediglich einige wenige Briefe von Sachs an Enzensberger sind bereits 1984 in der Auswahledition Briefe der Nelly Sachs von Ruth Dinesen und Helmut Müssener veröffentlicht worden. Dinesen erwähnt Sachs’ enge Freundschaft mit Enzensberger auch in ihrer Sachs-Biographie, allerdings ohne näher auf den Briefwechsel einzugehen. Aris Fioretos, der Hauptherausgeber der bei Suhrkamp erschienenen Sachs-Edition, widmet der Rolle Enzensbergers als Vermittler des Sachs’schen Werkes in dem sorgfältig gestalteten Ausstellungskatalog Flucht und Verwandlung. Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/Stockholm zwar die gebührende Aufmerksamkeit (vgl. S. 268f.), stellt die Beziehung naturgemäß jedoch aus der Perspektive der Sachs-Forschung dar. Auch in dem Sammelband Lichtersprache aus den Rissen (hg. von Ariane Huml, 2008), der mehrere aufschlussreiche Beziehungsstudien bringt, fehlt ein Aufsatz zur Beziehung Enzensberger/Sachs.

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Cover von Hans Magnus Enzensbergers
autobiographischem Tumult der 2014
im Suhrkamp-Verlag erschienen ist

Noch weniger Aufmerksamkeit wird der Beziehung von Seiten der Enzensberger-Forschung zuteil: Obwohl Enzensbergers anhand von Sachs’ Gedichten argumentierender Essay Die Steine der Freiheit (1959) innerhalb der Diskussion um die (Un-)Möglichkeit von „Lyrik nach Auschwitz“ (der so genannten „Adorno-Debatte“) seit langem kanonisch ist, fehlt eine gründliche Darstellung der Beziehung aus der Perspektive der Enzensberger-Forschung bis heute. Jörg Lau geht in seiner umfangreichen Enzensberger-Biographie aus dem Jahr 1999 ebenso wenig auf die Beziehung ein wie Christian Schlösser in seiner Einführung aus dem Jahr 2009.

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Cover der Auswahledition
Briefe der Nelly Sachs
aus dem Jahre 1984

Was uns über diese Beziehung bekannt ist, wissen wir also bis heute vornehmlich aus Enzensbergers eigenen Essays über Nelly Sachs (vgl. Ausstellungstafel 6), die naturgemäß seine subjektive Perspektive auf Sachs und die Freundschaft mit ihr vermitteln, sowie aus den wenigen veröffentlichten Briefen von Sachs an Enzensberger und seine Familie. Diese Briefe stammen vornehmlich aus den frühen sechziger Jahren, als Enzensberger auf der Insel Tjøme im Oslo-Fjord in Norwegen lebte und Nelly Sachs in Stockholm immer wieder heftige psychische Krisen durchlebte, als zugleich aber verschiedene gemeinsame Editionsprojekte Gestalt gewannen. Briefe aus den Jahren 1966 bis 1968, einer Zeit, in der Enzensberger selbst in äußeren und inneren „Tumult“ (so der Titel seiner 2014 erschienenen Erinnerungen an diese Jahre) geriet, fehlen fast vollständig, so dass fast automatisch das Bild einer ungleichgewichtigen Beziehung entsteht: Ein weltgewandter und selbstbewusster, dennoch aber sensibler und erinnerungspolitisch aufmerksamer junger Mann kümmert sich diesem Klischee zufolge liebevoll um eine traumatisierte, hilfsbedürftige und weitgehend passive Shoah-Überlebende und sorgt dafür, dass das Werk der Exilierten nach Deutschland zurückkehren kann. Unsere Arbeit an den unveröffentlichten Briefen Enzensbergers an Nelly Sachs, insbesondere aus der Zeit des „Tumults“, hat uns dazu geführt, die vertrauten eindimensionalen Bilder von Enzensberger und Sachs in Frage zu stellen und eine andere Version der Geschichte zu erzählen.

1958: die erste Begegnung

Der Briefwechsel zwischen Nelly Sachs und Hans Magnus Enzensberger ist Zeugnis der engen Freundschaft, die beide Autoren verbindet. Wann und wie aber hat diese Beziehung eigentlich begonnen? In der Literaturzeitschrift Sinn und Form erscheint im Jahr 2010 unter dem Titel Begegnungen mit Nelly Sachs ein Beitrag Enzensbergers, in dem der mittlerweile über Achtzigjährige sich an die ersten Besuche bei Nelly Sachs erinnert: Ende der fünfziger Jahre kreuzten sich ihre Lebenswege. Vielleicht ist beiden zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst, dass aus dieser ersten Annäherung eine Beziehung entstehen wird, die auf den ersten Blick wenig wahrscheinlich ist: ein Bund zwischen einer Frau, die so fragil wirkt und doch eine unerschütterliche Energie besitzt, und einem Mann, der unbesiegbar scheint und dessen Kraft doch irgendwann erschöpft ist.

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Alfred Andersch, Berzona (Tessin), September 1967
© Renate von Mangoldt

Enzensberger schreibt das Verdienst seiner Begegnung mit Nelly Sachs einem ganz bestimmten Menschen zu: Alfred Andersch. Als Schriftsteller, Literaturkritiker und Rundfunkredakteur hat Andersch in der Nachkriegszeit großen Einfluss im Literaturbetrieb der jungen Bundesrepublik Deutschland. Seine Zusammenarbeit mit Hans Werner Richter hatte den Impuls zur Gründung der berühmten „Gruppe 47“ gegeben, die nach dem Krieg einen moralischen und literarischen Neuanfang in Deutschland vorantreibt, der zugleich aber von einzelnen Autoren und Wissenschaftlern die Exklusion von Exilschriftstellern, ja sogar antisemitische Tendenzen vorgeworfen werden. Für Enzensberger, der die Exilschriftsteller nie aus dem Auge verliert, ist gerade Andersch „einer der wenigen, die Anteil nahmen am Los der aus Deutschland Vertriebenen und Geflohenen“ (Begegnungen mit Nelly Sachs, S. 561). Andersch ist es auch, der Nelly Sachs’ Lyrik entdeckt und ihre Gedichte an Enzensberger vermittelt, der seinerseits von der Sprachkraft der exilierten Lyrikerin beeindruckt ist. So sucht im Jahr 1956 zunächst Andersch Nelly Sachs in Stockholm auf, bald darauf, im Jahr 1958, stattet auch Enzensberger, der zu dieser Zeit im norwegischen Tjøme lebt, der Dichterin einen Besuch ab.

Im oben genannten Essay beschreibt Enzensberger, wie er diese erste Begegnung erlebt hat: „Wer in ihre kleine, karge, aber helle Wohnung kam, betrat eine andere Welt. Von dieser schmalen, zarten Frau, die leicht wie ein Vogel schien, ging eine Intensität aus, die mich zunächst eingeschüchtert hat. Ihre Haltung ist schwer zu beschreiben und noch schwerer zu erklären.“ (Begegnungen mit Nelly Sachs, S. 561) Alles deutet darauf hin, dass es diese „Intensität“ ist, diese Energie, die Enzensberger verblüfft. Vielleicht hatte er erwartet, die Inkarnation weiblicher Fragilität vor sich zu sehen, vielleicht hatte er sich, ausgehend von der Lektüre ihrer Gedichte, eine falsche Vorstellung von Sachs gemacht. Enzensberger erkennt, dass Sachs einem solchen Klischee absolut nicht entspricht.

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Hans Magnus Enzensberger in München 1960
© Rene Burri/Magnum Photos

Doch Enzensberger stellt noch weitere Besonderheiten ihrer Persönlichkeit fest: „Ich war den Umgang mit Autoren gewohnt und kannte ihre Vorzüge und Marotten, ihre Gewohnheiten und ihren berufsbedingten Narzißmus zur Genüge. Nichts davon war dieser Dichterin anzumerken.“ (Begegnungen mit Nelly Sachs, S. 561f.) Für Enzensberger ist Sachs ein Mensch, den eine Aura von Wohlwollen und Güte umgibt. Nach der ersten Begegnung revidiert er das Bild, das er sich zuvor gemacht hatte: Gegen alle Erwartungen und trotz der furchtbaren Erlebnisse, die ihr im Laufe ihres Lebens widerfahren sind, erweist sich Sachs als eine starke Frau.

Als Enzensberger 1958 nach Schweden reist, rechnet er damit, eine Schriftstellerin zu treffen, doch er findet nicht nur eine außergewöhnliche Dichterin, sondern eine Freundin. Über die ersten Gespräche mit Sachs berichtet er: „So haben wir [...] zuerst über ganz gewöhnliche Dinge gesprochen, über die Familie, über Ärzte und Malaisen, über den einen oder andern schwedischen Dichter, über Landschaften, über die Jahreszeiten.“ (Begegnungen mit Nelly Sachs, S. 562) Die ersten Unterhaltungen bezogen sich also auf ganz Alltägliches. Man spricht weder über die Schrecken der Vergangenheit, noch über berufliche Projekte für die Zukunft.

Enzensbergers Besuch bei Nelly Sachs im Jahr 1958 wird im Leben beider Autoren tiefe Spuren hinterlassen. Er ist nicht nur der Beginn einer überaus fruchtbaren literarischen Zusammenarbeit, sondern auch der Anfang einer ungewöhnlichen Freundschaft zwischen zwei Menschen, deren Sprache das Gedicht ist.

Quellen

Hans Magnus Enzensberger: Begegnungen mit Nelly Sachs. In: Sinn und Form 4 (2010), S. 261–563.

Hans Magnus Enzensberger über Nelly Sachs und ihr Werk

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Die erste Seite des Essays
Die Steine der Freiheit

Um auf Sachs aufmerksam zu machen und ihr Werk zu würdigen, hat Enzensberger mehrere Texte über Sachs geschrieben. Die drei wichtigsten Beiträge sind Die Steine der Freiheit, 1959 in der einflussreichen Zeitschrift Merkur publiziert, das Nachwort zu dem von ihm herausgegebenen Band Ausgewählte Gedichte (1963) sowie der Erinnerungstext Begegnungen mit Nelly Sachs, der in der Zeitschrift Sinn und Form (2010) erschienen ist. Diese Texte hat Enzensberger mehrere Male an verschiedenen Stellen ganz oder teilweise wiederveröffentlicht: So erschien 1977 beispielsweise das oben genannte Nachwort erneut in Das Buch der Nelly Sachs, und Teile aus den Begegnungen in dem jüngst erschienenen autobiographischen Buch Tumult (2014).

In Die Steine der Freiheit bezeichnet Enzensberger Nelly Sachs emphatisch als die „größte[] Dichterin, die heute in deutscher Sprache schreibt.“ (S. 770) Nur wenigen Dichtern gelinge es, Theodor W. Adornos Satz zu widerlegen, demzufolge es „barbarisch“ sei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben: „Wenn wir weiterleben wollen, muß dieser Satz widerlegt werden. Wenige vermögen es. Zu ihnen gehört Nelly Sachs. Ihrer Sprache wohnt etwas Rettendes inne. Indem sie spricht, gibt sie uns selber zurück, […] was wir zu verlieren drohten: Sprache.“ (S. 772) Enzensberger stellt Sachs als einen starken Menschen dar, der sich der schrecklichen Erinnerung an die NS-Zeit stellt. In ihrem Werk, etwa im Gedicht An euch, die das neue Haus bauen, reiche sie denen das Wort, „die nicht mehr mit uns wohnen werden“ (S. 771). Sachs’ Werk zeuge von ihrer intensiven Beschäftigung mit dem Judentum, das „sie nicht nur zum Opfer gemacht“ habe, sondern „ihr auch die Kraft zugetragen [habe], uns und unserer Sprache dieses Werk zuzuwenden“ (S. 774). Dank ihrer Religion habe Sachs die Kraft gefunden, uns ihr Werk zu übermitteln, das eine Mahnung sei, die Toten nicht zu vergessen.

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1. Cover der Ausgabe Ausgewählte Gedichte
mit einem Nachwort von Hans Magnus Enzensberger,
1963 bei Suhrkamp veröffentlicht

2. Cover des dritten Gedichtbands von Hans Magnus Enzensberger,
1967 bei Suhrkamp veröffentlicht


Im Nachwort der Ausgabe Ausgewählte Gedichte von 1963 geht Enzensberger ausschließlich auf Sachs‘ Werk ein. Er nennt es „groß und geheimnisvoll“ (S. 85). Es sei unmöglich, das Rätsel von Sachs‘ Werk zu verstehen, aber dies sei auch nicht nötig. Das Geheimnisvolle, Unverstehbare, sei gerade der Schlüssel zu ihrem Werk. „[W]ir haben es hier mit Rätseln zu tun, die in ihrer Lösung nicht aufgehen, sondern einen Rest behalten – und auf diesen Rest kommt es an.“ (S. 86) Man könne ihr Werk nicht verstehen, wenn man versuche, es zum Zweck der Analyse zu zerteilen. Ein Verständnis ihrer Poesie könne man allein dadurch erlangen, dass man ihr Werk als Ganzes betrachte. Nelly Sachs schreibe „im Grunde an einem einzigen Buch“ (S. 86), welches 1946 mit der Gedichtsammlung In den Wohnungen des Todes beginne. Enzensberger erblickt in Sachs’ Werk – Sachs selbst zitierend – ein „Adernetz“ (S. 92) der Worte, das sich von jedem Punkt aus erschließen lässt.

Im dritten Text, Begegnungen mit Nelly Sachs, beschreibt Enzensberger, welche Eindrücke er im Laufe seiner Freundschaft von Nelly Sachs gewonnen hat. Auf der einen Seite charakterisiert Enzensberger sie als eine zerbrechliche Frau, doch auf der anderen Seite fühlte er sich von ihr fast eingeschüchtert. Er sei erstaunt, dass er ihr Zutrauen habe gewinnen können. Viele Menschen hätten jedoch ein falsches Bild von Sachs. Sie sei gar nicht so weltfremd und isoliert, wie sie manchmal gesehen würde. Tatsächlich hatte Sachs innerhalb und außerhalb der Literaturszene Freundschaften, die sie pflegte (z.B. mit Gunnar Ekelöf oder mit ihrer Nachbarin Rosi Wosk, einer Auschwitz-Überlebenden). Für Enzensberger ist Sachs eine bewundernswerte Person, da sie trotz der sie unablässig quälenden Verfolgungsängste eine große Seelenstärke ausstrahlte. Anders als in Die Steine der Freiheit, wo Enzensberger Sachs als eine herausragende Dichterin darstellt, wird sie hier als Mensch erkennbar. Es wird deutlich gezeigt, dass Sachs durchaus auch bodenständige Seiten hatte, die dem Klischee der weltfremden Mystikerin widersprechen.

Von der hohen Wertschätzung, die Enzensberger Sachs entgegenbringt, zeugt auch sein Eintrag zu ihr im Museum der modernen Poesie (1960), einer Anthologie von Dichtern der Moderne aus aller Welt. Dass Enzensberger Sachs in diese internationale Anthologie aufnimmt, zeigt, dass er ihr Werk nicht allein als Teil der deutschen Literatur, sondern der Weltliteratur betrachtet. 1961 erscheint zudem in der zu ihrem 70. Geburtstag überreichten Festgabe Nelly Sachs zu Ehren das Gedicht Die Verschwundenen, mit dem Enzensberger, der sonst als Vermittler und Kommentator für Nelly Sachs eintritt, ihr auch als Lyriker seine Reverenz erweist.

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1. Cover der Festschrift Nelly Sachs zu Ehren, die 1961 im Suhrkamp-Verlag erschienen ist

2. Umschlagseite der Festschrift Nelly Sachs zu Ehren aus dem Jahre 1961

3. Hans Magnus Enzensbergers Gedicht die verschwundenen, das erstmals in der Festschrift Nelly Sachs zu Ehren erschien

Quellen

Gemeinsame Projekte

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Cover der Gesamtausgabe Fahrt ins Staublose,
die erstmals im Jahre 1961 bei Suhrkamp erschien

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Cover des Einbands mit Gedichten Gunnar Ekelöfs,
die von Nelly Sachs übersetzt wurden

Die Wertschätzung, die Hans Magnus Enzensberger dem literarischen Werk von Nelly Sachs entgegenbringt, führt zu Beginn der 60er Jahre zu einer engen Zusammenarbeit, die in ihrem Briefwechsel oftmals zur Sprache kommt. So findet Nelly Sachs dank Enzensbergers Engagement eine Heimat im Suhrkamp Verlag. Der junge Autor und Lektor kümmert sich persönlich um die verschiedenen Gedichtbände, die in den folgenden Jahren im Verlag erscheinen werden. Sachs zeigt großes Vertrauen in Enzensberger: So lässt sie ihn einige ihrer Gedichte bereits vor der Veröffentlichung kritisch lesen und akzeptiert Enzensbergers Urteil.

Die Gesamtausgabe Fahrt ins Staublose, die 1961 bei Suhrkamp erscheint, entsteht in enger Zusammenarbeit zwischen Enzensberger und Sachs, die ihrem Mang, wie sie ihn nennt, zahlreiche Hinweise für die Gestaltung und Anordnung der Gedichte gibt, während Enzensberger sich um die praktischen Aspekte der Editionsarbeit kümmert. Im März 1961 fährt Enzensberger sogar persönlich nach Schweden, um die Gestaltung des Bandes zu besprechen. Enzensberger ist sehr darauf bedacht, Sachs‘ gesamtes Werk für den Suhrkamp-Verlag zu gewinnen, wie er sie in einem Brief vom 24. Februar 1961 wissen lässt: „berendson [!][deutsch-jüdischer Literaturwissenschaftler und Vermittler der Exilliteratur, ebenfalls in Stockholm lebend] sagte mir auch, dass sich luchterhand und hilthy für den abdruck deiner stücke interessieren. vielleicht wäre es gut, du würdest ihnen keine direkten zusagen machen, ehe wir uns gesehen haben?“ (KB, Nr. 143, 24. Februar 1961).

Dies bleibt nicht das einzige Projekt, das Enzensberger und Sachs gemeinsam unternehmen. Ihre späteren Veröffentlichungen, zu denen das lange Gedicht Die Suchende und andere Projekte zählen, werden bei Suhrkamp von Enzensberger betreut und mit Vorworten versehen. Es kommt jedoch vereinzelt zu Uneinigkeiten, beispielsweise in der Frage, ob Sachs’ Glühende Rätsel in die Gesamtausgabe integriert werden sollten: „Ich möchte dir noch mitteilen daß ich eigentlich nicht den ganzen Zyklus Glühende Rätsel in die Auswahl haben möchte“, schreibt Nelly Sachs am 29. Dezember 1962 und fragt skeptisch: „Genügt nicht die Auswahl wie du sie zusammenstelltest?“ (DLA, 29. Dezember 1962) Enzensberger beharrt allerdings auf seiner Entscheidung: „leider habe ich eine enttäuschung für dich, soviel ich nämlich weiß und aus frankfurt gehört habe, ist dein gedichtbuch, das neue mit den ,glühenden rätseln’ darin, bereits gedruckt, und also ist’s zu spät daran etwas zu ändern. ich glaube aber nach wie vor, dass es besser so ist.“ (KB, Nr. 146, 5. Januar 1963)

Sachs arbeitet außerdem an den deutschen Übersetzungen von Gedichten Gunnar Ekelöfs, die Enzensberger im Rahmen einer ebenfalls bei Suhrkamp erscheinenden mehrsprachigen Lyrik-Reihe, die der Re-Internationalisierung der deutschen Literaturszene nach dem Zweiten Weltkrieg dienen soll, unterzubringen weiß.

Sachs erläutert Enzensberger in ihren Briefen auch, dass sie für Suhrkamp an einer schwedischen Anthologie arbeite, deren Fertigstellung ihr allerdings schwer falle, weshalb sie ihn um Rat bittet. Diese Arbeit wird sie jedoch niemals beenden

Die Arbeitsbeziehung zwischen Enzensberger und Nelly Sachs wird oft als einspurig angesehen – man konzentriert sich auf den Einfluss, den Enzensberger bei Suhrkamp geltend machte, um Sachs’ Projekte durchzusetzen. Zudem hat sich Sachs tatsächlich ein ums andere Mal bei Enzensberger Rat geholt. Letztlich blieb jedoch Enzensbergers Hilfe nicht ohne Gegenleistung, denn Sachs, die sich in Schweden ein großes literarisches Netzwerk aufgebaut hatte, half Enzensberger dabei, Kontakte zu knüpfen, die für seine eigenen Projekte von großem Wert waren. Es handelte sich also um eine echte Zusammenarbeit, aus der beide Partner auf unterschiedliche Weise Gewinn zu ziehen vermochten.

Spätfolgen

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Brief von Nelly Sachs an Hans Magnus Enzensberger
vom 28. Oktober 1960
© Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA), A:Sachs, x

Als im Jahr 1950 die Mutter stirbt, verschlechtert sich Nelly Sachs’ Gesundheitszustand erheblich. Häufig erwähnt sie in den Briefen an Enzensberger quälende psychische Leiden. Die Geister der Vergangenheit, die sie nie ganz verlassen, haben, suchen sie in Ängsten und Wahnvorstellungen immer noch heim. In einem Interview spricht ihr Arzt über die Folgen ihrer Traumatisierung: „Sie war nach innen gekehrt und hatte panische Angst, kommunizierte fragmentarisch. Wie wir wissen, hatte sie in der Wohnung Angst, fühlte sich von Nachbarn und Nationalsozialisten bedroht.“ (FuV, S. 229) An Enzensberger schreibt Sachs im Jahr 1961: „Ich denke nun, daß ich mit Mut beginnen muß, wieder das Leben, wie es für mich ist, zu leben. [...] Aber für mich und für so viele beginnt ein neuer Äon – ein Äon der Schmerzen mit den ,Wohnungen‘ [d.i. ihr Gedichtband In den Wohnungen des Todes].“ (BNS, S. 272) Nelly Sachs wird mit Elektroschocks behandelt, die jedoch keine Erleichterung bringen. Am 29. Juni 1962 schreibt sie an Enzensberger: „[I]ch kann ja nicht arbeiten mit den Schockbehandlungen – weil ich alles vergesse – nur was ich vergessen soll, vergesse ich nicht.“ (BNS, S. 284)

Enzensberger sorgt sich um die Freundin und bemüht sich, ihr immer wieder Mut zuzusprechen, wie beispielsweise einem Brief vom 19. Dezember 1960 zu entnehmen ist: „du willst deine sorgen für dich behalten und sie selber tragen – aber auch das gehört zur freundschaft, daß man sie teilt, wenn sie drückend oder gar gefährlich werden.“ (KBS, Nr. 140, 19. Dezember 1960) Die Briefe bezeugen, dass Enzensberger eine hohe Sensibilität für die seelischen wie auch für die körperlichen Leiden der Freundin hat. So enden seine Briefe oft mit einigen liebevollen Worten, die seine Anteilnahme ausdrücken: „bitte schreib mir immer, wie es dir geht. wir machen uns sonst arge sorgen um dich. wir umarmen dich herzlich.“ (KBS, Nr. 138, 18. Oktober 1960) Mit „wir“ sind Enzensberger, seine Frau Dagrun und die gemeinsame Tochter Tanaquil gemeint. Für Sachs sind sie eine Art Spiegelbild der eigenen dreiköpfigen Familie, eine neue Familie, auf die sie immer zählen kann. Bereits in ihrem ersten Brief, der auf den 1. Februar 1958 datiert ist, bringt sie ihr Interesse an der ganzen Familie Enzensberger zum Ausdruck : „Inzwischen, bitte, grüße Deine liebe Frau und, bitte die Namen von ihr und dem Kind, damit ich Euch noch besser vor mir habe. Viele liebe Grüße für Euch alle Drei!“ (BNS, S. 186).

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Nelly Sachs in ihrer „Kajüte“
© Kungliga biblioteket – National Library of Sweden,
collection Sachs, L90:8:1:2:9, NS hemma, 1965

Was Nelly Sachs’ literarische „Rückkehr“ nach Deutschland und insbesondere die Verankerung ihres Werks im Suhrkamp-Verlag angeht, so lässt sich festhalten, dass Enzensberger eine wichtige Rolle als Vermittler und Fürsprecher gespielt hat. Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass Sachs auch mit anderen einflussreichen Akteuren im literarischen Feld Beziehungen unterhielt, z.B. mit Autoren wie Alfred Andersch, Paul Celan, Ingeborg Bachmann und Hilde Domin, aber auch mit namhaften Herausgebern und Kritikern. Das literarische Netzwerk, das sie sich aufbaute, bezeugt, wie genau sie den literarischen Betrieb in Deutschland beobachtete.

Das Engagement Enzensbergers für Sachs, das dazu führte, dass ihr Werk bei Suhrkamp eine neue verlegerische Heimat fand, blieb jedoch keineswegs unbeantwortet. Vielmehr konnte Enzensberger auch auf Sachs’ praktische Hilfe zählen, und zwar vor allem in literarisch-praktischer Hinsicht. Sachs übersetzte für seine neue Reihe bei Suhrkamp die Gedichte Gunnar Ekelöfs und vermittelte gemeinsam mit Enzensberger auch andere schwedische Autoren im deutschen Sprachraum. Aber auch finanziell konnte Sachs Enzensberger gelegentlich unter die Arme greifen. So bittet er sie am 5. Juli 1968, seinen politischen Kampf finanziell zu unterstützen: „manche (studenten) haben kein geld, aber leute wie ich können schon allerhand abgeben. ich weiß nicht was du davon hältst, aber meine freunde hier haben mich beauftragt bei dir anzufragen, ob du uns ein paar tausend kronen geben kannst. ich kann diese bitte unterstützen und dafür sorgen, daß dieses geld richtig verwendet wird. (das alles gilt natürlich nur, wenn es dir keinerlei sorgen macht.)“ (KBS, Nr. 166, 5. Juli 1968) Nelly Sachs wird der Bitte entsprechen.

Die literarische Konstellation Enzensberger/Sachs beruht also durchaus auf Gegenseitigkeit, wenn dies auch auf den ersten Blick anders erscheinen mag. Im Briefwechsel wird sie als eine reziproke Beziehung erkennbar, die sich besonders in schwierigen Momenten als haltbar erwies.

Große Welt/Kleine Welt

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Nelly Sachs’ kleine Wohnung am Bergsundsstrand 23
© Kungliga biblioteket – National Library of Sweden,
Harry Järv, Ämbetsarkivet, bostaden, 1970, n° 3

Wenngleich in Freundschaft eng verbunden, leben Sachs und Enzensberger vollkommen unterschiedliche Leben. Während die eine in ihrer sicheren „Kajüte“ bleibt (wie sie ihre winzige Stockholmer Wohnung liebevoll nennt), bewegt sich der andere gewandt auf dem Parkett der großen Welt, und zwar sowohl in gesellschaftlicher als auch in geographischer Hinsicht, da er unablässig auf Reisen ist.

Sachs, die unter ihren Wahnvorstellungen und Verfolgungsängsten leidet, bleibt so viel wie möglich zu Hause und vermeidet jede äußere Unruhe. In ihren Briefen berichtet sie über wiederkehrende Aufenthalte in Krankenhäusern und Erholungsheimen. So berichtet sie in einem Brief vom 30. April 1961, dass sie neuerdings wage, ihre Ausgangskarte zu verwenden, um ab und zu spazieren zu gehen. Ihr Ziel sei es, am 4. Mai in ihre Wohnung zurückzukehren, und ihr Arzt sei erfreut darüber, dass sie wieder bereit sei, alleine zu leben. Doch schon im Februar 1962 erwähnt sie einen neuerlichen Krankenhausaufenthalt – „wieder in der Zuflucht – wieder das Zimmerchen“– versichert aber zugleich, dass der Arzt „optimistisch“ sei und auf ihre „endliche Befreiung“ (BNS, S. 278, 25. Februar 1962) hoffe.

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Hans Magnus Enzensberger bei einem Treffen der Gruppe 47
in Princeton im April 1966 © Renate von Mangoldt


Im bereits genannten Brief vom Oktober 1966 reflektiert Enzensberger selbst den Unterschied zwischen seinem Leben und dem von Nelly Sachs und konstatiert: „am ende hast du den bessern teil erwählt mit deiner kleinen küche“ (KB, Nr. 161, 25. Oktober 1966). Sie, die immer zu Hause geblieben sei, werde nun, angesichts der Verleihung des Nobelpreises von Journalisten aus der ganzen Welt umlagert: „aber jetzt kommt die welt wirklich zu dir, steht vor deiner tür und klingelt mit kameras und mikrophonen und banketts.“ (KB, Nr. 161, 25. Oktober 1966)

Der Vergleich zwischen Sachs’ (scheinbar) kleiner und der eigenen ,großen Welt‘ ist eindrucksvoll. Während Enzensberger immer unterwegs ist in dem Bestreben, seine vielen politischen und literarischen Projekte zu verwirklichen, sieht Sachs, die vor allem Ruhe sucht, plötzlich alle Scheinwerfer der internationalen Literaturwelt auf sich gerichtet. Während der eine sich in der Weite der Welt zu verirren droht, erlebt die andere, wie diese große Welt in ihre geschützte Umgebung eindringt.

Enzensberger war Sachs’ Vermittler beim Suhrkamp-Verlag und ersparte ihr so Reisen nach Deutschland, die sie aufgeregt hätten. Umgekehrt war die kleine „Kajüte“ in Stockholm ein Ruhepunkt und Ort der Stetigkeit für den rastlosen Enzensberger. Obwohl beide ganz und gar unterschiedliche Persönlichkeiten waren, ergänzten sie einander sehr gut, was ihre bemerkenswerte Freundschaft zumindest zum Teil erklärt.

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Rot markiert sind die Weltteile, die Hans Magnus Enzensberger von 1966 bis 1968 besucht hat.
Die Weltkarte wurde von den Studierenden erstellt.

Nobelpreis für Nelly Sachs

1966 gewinnt Nelly Sachs den Literaturnobelpreis, rund 20 Jahre nachdem zuletzt Hermann Hesse diesen Preis 1946 als deutschsprachiger Autor gewonnen hat. Zusammen mit dem hebräischen Schriftsteller Samuel Joseph Agnon wird Sachs diese Ehre zuteil, als sechste Frau, die in dieser Kategorie jemals ausgezeichnet worden ist. Am 20. Oktober 1966 gibt die schwedische Nobel-Jury das Ergebnis bekannt. Nur wenige Wochen später, am 10. Dezember 1966, wird der Preis dann in Stockholm durch König Gustav VI. Adolf verliehen. Zufällig ist dieses Datum, der Todestag des Preisstifters Alfred Nobel, zugleich der 75. Geburtstag von Nelly Sachs. Der Preis wird ihr zuerkannt „for her outstanding lyrical and dramatic writing, which interprets Israel's destiny with touching strength“ (Webseite des Nobelpreises), wie in der Urteilsbegründung zu lesen ist.

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Telegramm von Hans Magnus Enzensberger, in dem er Nelly Sachs zu ihrem Nobelpreis gratuliert
© Kungliga biblioteket – National Library of Sweden, collection Sachs, L 90 (1960-1970), n° 160

Hans Magnus Enzensberger kann Sachs leider nicht persönlich gratulieren, da er sich zu diesem Zeitpunkt im Krankenhaus befindet. Er schickt ihr jedoch ein Telegramm (siehe Abbildung: KB, Nr. 160). Als er wieder zuhause ist, schickt er ihr am 25. Oktober 1966 einen längeren Brief, in dem er ihr herzlich gratuliert. Er ist keineswegs überrascht, vielmehr hat er bereits seit längerer Zeit damit gerechnet, dass sie diesen Preis erhalten wird: „er steht dir einfach zu, und das ist alles, mehr brauchen wir darüber gar nicht zu sagen.“ (KB, Nr. 161, 25. Oktober 1966). Gleichzeitig macht er sich allerdings auch Sorgen um sie, da er befürchtet, dass die große Aufmerksamkeit, die ihr jetzt aus der ganzen Welt zuteil wird, sie überfordern könnte. Er möchte sie später besuchen, „aber erst wenn der große tanz vorbei ist“, „um einen ruhigen tag miteinander zu[zu]bringen“ (KB, Nr. 161).

Die Namen der anderen Kandidaten sowie die Protokolle über den Prozess der Auswahl des Siegers bzw. der Sieger unterliegen einer Sperrfrist von 50 Jahren. Erst Anfang 2017 wurde deshalb teilweise Akteneinsicht gewährt. So erfährt man in einem Artikel der Neuen Zürcher Zeitung vom 9. Januar 2017, dass u.a. Paul Celan und Samuel Beckett ebenfalls zur Wahl standen, jedoch beide abgelehnt wurden. „Ein Ausschuss bereitet die Wahl des Preisträgers jeweils vor und unterbreitet der achtzehnköpfigen Akademie als Wahlgremium einen Bericht, der in die Nominierung eines Favoriten mündet. Meistens folgt die Akademie dem Vorschlag ihres Komitees.“ (NZZ, 9.1.2017) 1966 war dies jedoch nicht der Fall, denn sonst hätte der Japaner Yasunari Kawabata den Preis gewonnen. Da das Diskussionsprotokoll weiterhin unter Verschluss bleibt, lässt sich nicht erschließen, warum Sachs und Agnon als Laureaten ausgewählt worden sind. Sachs war drei Jahre zuvor erstmals für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen worden, kam aber nicht in die engere Auswahl. Aldo Keel gibt in der Neuen Zürcher Zeitung als möglichen Grund dafür, dass Sachs den Preis schließlich doch erhalten hat, an, dass sie „Heimvorteil“ genieße. Außerdem waren Gunnar Ekelöf und Erik Lindegren, zwei enge Freunde von Sachs, Mitglieder der Schwedischen Akademie, was ebenfalls zu ihrem Vorteil gereicht haben könnte. Das damalige Komitee hat sich übrigens dagegen ausgesprochen, Sachs und Paul Celan den Preis gemeinsam zuzuerkennen. Es war der Meinung, „dass sein Werk die Nominierung [nicht] rechtfertige“ (NZZ, 9.1.2017). Bereits zwei Jahre zuvor war das Komitee der gleichen Meinung gewesen: Sein Werk entspreche nicht „den Ansprüchen einer hohen internationalen Auszeichnung“. Die Geschichte hat allerdings gezeigt, dass die Schwedische Akademie sich in dieser Hinsicht getäuscht hat.

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Nelly Sachs bei der Verleihung des Nobelpreises in Stockholm
© Kungliga biblioteket – National Library of Sweden, collection Sachs, L90:8:2:11e, Nobel

Quellen

Die Achillesferse des Hans Magnus Enzensberger

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Hans Magnus Enzensberger, Berlin, Oktober 1970
© Renate von Mangoldt

Zwischen 1958 und 1966 haben Nelly Sachs und Hans Magnus Enzensberger miteinander in regelmäßigem Briefwechsel gestanden. Ab 1966 wird der briefliche Austausch jedoch sporadischer. Der erste Teil der Korrespondenz zeigt Enzensberger als liebevollen Unterstützer einer gegen ihr schweres Trauma ankämpfenden Frau und Nelly Sachs als dankbare Empfängerin solcher Zuwendung. Ab 1966 verändert sich der Ton der Briefe deutlich, und zwar vor allem auf Seiten Enzensbergers, der mit einem Mal viel ausführlicher als zuvor über die eigene, belastende Lebenssituation spricht. Der junge, dynamische Autor, der sich bisher keine persönliche Blöße gegeben hat, zeigt plötzlich seine Achillesferse.

Der Brief vom 25. Oktober 1966 ist hierfür besonders aufschlussreich, da er eine bisher unbekannte Seite von Enzensberger sichtbar macht: „wenn ich noch eine minute lang von mir selber reden soll […]“ (KB, Nr. 161, 25. Oktober 1966), beginnt er scheinbar zurückhaltend, um dann jedoch sehr ausführlich über sich selbst zu sprechen. Dass Nelly Sachs bald darauf der Nobelpreis überreicht werden soll, kommentiert er lediglich in wenigen lapidaren Worten. Das Bedürfnis, sich selbst mitzuteilen, scheint Überhand gewonnen zu haben. Nach langen „atemlosen“ Reisen ins Ausland sei er endlich „wieder halbwegs auf den beinen“ (ebd.). Er sei ein „irrfahrer“ durch Europa (KB, Nr. 167, 5. März 1969) gewesen, dem ein Leben in Ruhelosigkeit jedoch im Grunde gar nicht gemäß sei. So schreibt er nach einer Reise nach Paris an Nelly Sachs: „die grossstaedte missfallen uns sehr. alle strassen und bahnen kommen uns ueberfuellt vor, und an jeder ecke soll man geld ausgeben. das ist aber nichts für uns, wir wollen unsere ruhe haben.“ (KB, Nr. 175, undatiert)

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Undatierter Brief von Hans Magnus Enzensberger an Nelly Sachs
© Kungliga biblioteket – National Library of Sweden,
collection Sachs, L 90 (1960-1970), n° 173

Im Brief vom 25. Oktober 1966 (KB, Nr. 161) erwähnt er auch seine übergroße Arbeitsbelastung und seinen Hang, die eigenen Kräfte zu überschätzen: Er erkennt, wie leicht er sich hat verführen lassen und wie häufig er Zeit und Kraft vergeudet hat. In einem undatierten, handschriftlich verfassten Brief (siehe Abbildung) an Sachs schreibt er: „ach liebe li das leben ist hart, ich bin todmüde weil ich so viel zu tun habe, nicht nur die arbeit sondern auch daß so viele leute an mir dranhängen und hilfe wollen rat geld antwort besuch freundschaft geduld – manchmal bin ich so erschöpft – und dabei habe ich soviel pläne zu neuen sachen. man müßte zehnmal so viel zeit und kräfte haben.“ (KB, Nr. 173, undatiert) Die permanente Überbeschäftigung ist auch eine Erklärung dafür, warum Enzensberger Nelly Sachs nun viel seltener schreibt als früher: Schon 1965 hatte er über die mit der „zeitschrift, die ich plane“ (dem Kursbuch) zusammenhängende „last der korrespondenz“ geklagt: „dazu dann noch die übliche verlagsarbeit, vom schreiben gar nicht zu reden. Da siehst du, daß mir einfach keine weile mehr bleibt für die briefe die ich eigentlich schreiben will. stattdessen muß ich dumme manuskripte zurückschicken.“ (KB, Nr. 153, 13. Mai 1965)

Nicht nur in der Arbeit sieht sich Enzensberger mit kaum lösbaren Problemen konfrontiert: Als er sich voller Elan in die politischen Ereignisse des Jahres 1968 hineinbegibt, bleibt kein Raum für literarische Projekte und die Familie übrig: „wenn du die zeitungen gelesen hast, dann weißt du ja was hier alles los war, und dann hast du dir denken können, daß ich mich hals über kopf in unsere sache gestürzt habe. das war viel arbeit, wir sind oft nicht zum schlafen gekommen. […] – für den literarischen egoismus blieb keine zeit, nicht einmal zeit für ein privates leben. das sind aufgeregte zeiten.“ (KB, Nr. 165, 04. Mai 1968) Er habe „manchmal angst vor [s]einem eigenen leben, das so vorbeisaust […]“ (KB, Nr. 161, 25. Oktober 1966). Zur selben Zeit gerät auch Enzensbergers Ehe in eine Krise, die er in seinem Werk Tumult beschreibt. „mein Leben ist ziemlich durcheinander geraten“, schreibt er in einem Brief an Nelly Sachs vom 3. September 1967. Der stets souveräne Enzensberger, der sich so intensiv um die „schwache“ Freundin gekümmert hat, offenbart nun ausgerechnet ihr gegenüber die eigene Schwäche.

Die Briefe aus den Jahren 1965 bis 1968 ermöglichen es somit, ein differenzierteres Bild der Beziehung zu skizzieren: Stärke und Schwäche sind in dieser Freundschaft weniger eindeutig einem der Partner zuzuordnen, als dies bisher in der Forschung gesehen worden ist.

Team, Quellennachweise, Dank

Team

Studierende: Bastien Bomans, Amalia Carrera, Eric Dupont, Florine God, Virginie Heine, Michael Klütgens, Eve Legast, Julie Luxen, Lisa Nelissen, Zoé Pastor

Unter der Leitung von Valérie Leyh und Vera Viehöver

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Gruppenfoto in der historischen Altstadt Marbachs
(vorne, von links nach rechts: Zoé Pastor, Eve Legast, Julie Luxen und Virginie Heine ; hinten, von links nach rechs: Valérie Leyh, Amalia Carrera, Michael Klütgens, Eric Dupont, Lisa Nelissen, Bastien Bomans, Florine God und Vera Viehöver)

Quellennachweise

Unveröffentlichte Quellen

  • Briefe von Hans Magnus, Dagrun und Tanaquil Enzensberger an Nelly Sachs, Kungliga biblioteket in Stockholm (KB), Signatur: Sammlung Sachs, L 90 (1960-1970), Nr. 136–186.
  • Briefe von Nelly Sachs an Hans Magnus, Dagrun und Tanaquil Enzensberger, Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar (DLA), Signatur: A: Sachs x

In den einzelnen Ausstellungstafeln werden die Briefe mit dem Archivort, der Nummer und/oder dem Datum nachgewiesen.

Weitere Primärliteratur (in chronologischer Reihenfolge)

  • Enzensberger, Hans Magnus: Die Steine der Freiheit. In: Merkur 138 (1959), S. 771–775.
  • Museum der modernen Poesie eingerichtet von Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1960.
  • Nelly Sachs zu Ehren. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1961.
  • Nelly Sachs: Ausgewählte Gedichte. Nachwort von Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1963.
  • BNS = Briefe der Nelly Sachs. Hg. von Ruth Dinesen und Helmut Müßener, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984.
  • Enzensberger, Hans Magnus: Begegnungen mit Nelly Sachs. In: Sinn und Form 4 (2010), S. 561–563.
  • Nelly Sachs: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Hg. von Aris Fioretos, Frankfurt a.M. 2010.
  • Enzensberger, Hans Magnus: Tumult. Berlin: Suhrkamp 2014.

Sekundärliteratur (Auswahl)

  • Das Buch der Nelly Sachs. Hg. von Bengt Holmqvist, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968.
  • Dinesen, Ruth: Nelly Sachs. Eine Biographie, aus dem Dänischen übersetzt von Gabriele Gerecke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994.
  • FuV = Fioretos, Aris: Flucht und Verwandlung. Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/Stockholm, Riga: Suhrkamp 2010. (Bildbiographie zur Nelly-Sachs-Wanderausstellung 2010/2011 in Berlin, Stockholm und Dortmund)
  • Lau, Jörg: Hans Magnus Enzensberger. Ein öffentliches Leben, Berlin: Alexander Fest Verlag 1999.
  • „Lichtersprache aus den Rissen.“ Nelly Sachs – Werk und Wirkung, hg. von Ariane Huml, Göttingen: Wallstein 2008.
  • Schlösser, Christian: Hans Magnus Enzensberger, Paderborn: Fink 2009.

Dank

Für die freundliche Genehmigung zum Abdruck der Briefzitate und Brief-Abbildungen danken wir Dr. Hans Magnus Enzensberger, dem Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar, der Königlichen Bibliothek Stockholm und dem Suhrkamp Verlag, Berlin.

Für die Veröffentlichung der Fotos danken wir Renate von Mangoldt, dem Literarischen Colloquium Berlin, Magnum Photos, der Königlichen Bibliothek Stockholm und dem Suhrkamp Verlag, Berlin, die uns die nötigen Genehmigungen erteilt und das Projekt unterstützt haben.

Dr. Jan Bürger, stellvertretender Leiter der Handschriftenabteilung des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar, danken wir für seine wertvollen Ratschläge sowie für die beeindruckende Führung durch das Literaturarchiv und vor allem durch das Suhrkamp-Archiv.

Bedanken möchten wir uns auch bei Stéphanie Simon und dem ganzen Team der Digitalisierungsstelle der Université de Liège für die sehr gute Zusammenarbeit.

Für die finanzielle Unterstützung danken wir den Verantwortlichen des ARC-Projekts „GENACH“ sowie dem Dekanat der Philosophischen Fakultät der Université de Liège.